Ein modernes Märchen, das ich 2007 im Rahmen eines Schreibwettbewerbs erfunden habe. Mein kleiner Beitrag zu „Heiden gegen Rassismus“. Viel Spaß beim Lesen! 🙂
Hier die pdf-Version:
Rüdiger und die Frau am Brunnen
Und hier zum Sofortlesen:
Folgende Kurzgeschichte habe ich im Zuge eines Geschichtenwettbewerbs am BBnC-Festival 2007 von James Vermont eingereicht. Hab den 3. Platz geschafft. *g* Die hiesige Version ist leicht adaptiert und verlängert.
Vorgaben waren:
– Höchstens eine Seite lang (bin definitiv drüber)
– Der Titel und die Hauptfigur „Die Frau am Brunnen“
– Folgende Worte müssen in der Geschichte mindestens einmal vorkommen:
Atem, Brücke, Magie, Märchen, Schicksal, Sinn, Spiegel, Spinne, Traum, Wasser, eine beliebige Farbe (ich nahm weiß), Würfel, heilige Zahl (die vorgegebenen Begriffe sind hervorgehoben)
Rüdiger und die Frau am Brunnen
(c) Mc Claudia 2007
„Ooooooodiiiiiinnnnn!!!“ grölte Rüdiger zusammen mit den anderen Neonazis, mit denen er um das Sommersonnwendfeuer saß und bierselig feierte.
Das Wetter konnte schöner nicht sein, als die leuchtend rote Sonne majestätisch im glitzernden Wasser des nahen Schotterteichs versank, der aus einem etwas entfernt gelegenen Brunnen gespeist wurde.
Vor fünf Jahren war Rüdiger in die Nazi-Skin-Gruppe feierlich aufgenommen worden. Seine Kameraden hatten ihm eine Bomberjacke geschenkt, auf deren Rückenteil ein schwarz-weißer Aufnäher prangte, auf dem stolz in altdeutschen Lettern der Schriftzug „White Power“ über einem keltischen Kreuz zu lesen war. Seitdem nahm er die Jacke immer mit, auch dann, wenn es, wie an diesem Tag, sommerlich heiß war. Rüdiger war Rassist mit Leib und Seele und daher auch nicht zimperlich, wenn er die Idee der „Weißen Vorherrschaft“, getränkt mit dem Pathos von Ehre und Treue mit äußerst schlagkräftigen Argumenten in die dekadente links-linke Welt hinaus trug. Bei seinem Kampf gegen die Gut- und Untermenschen rief er gerne Odin an, den nordischen Göttervater, der, so meinte der Skin, das ultimative Symbol des Sieges der weißen Rasse war.
Während die illustre Runde von früheren Heldentaten schwärmte, meldete sich bei Rüdiger das Bier, das er bereits in großen Mengen genossen hatte, und er wankte zum Schotterteich, überquerte die kleine Brücke und machte sich daran, in den Brunnen zu pinkeln. Plötzlich wurde ihm schwindelig, die Sinne schwanden ihm, und er kippte vornüber in das Rinnsal. Er spürte nur mehr einen dumpfen Schlag auf den Kopf, als es ihm schwarz vor Augen wurde.
Benommen sah sich der Skinhead um. Strahlendes Sonnenlicht blendete ihn. Er lehnte an einem mächtigen Baum. Neben ihm befand sich der Brunnen des Schotterteichs. Bloß der Schotterteich hatte sich in einen wildromantischen See verwandelt, an dessen Ufer wunderliche Bäume und noch wunderlichere Blumen in allen Farben wuchsen und dufteten. Faszinierende riesige, schillernde Insekten schwirrten durch die sommerlichen Lüfte, und eines dieser riesigen Dinger, so groß wie ein Bernhardiner, befand sich plötzlich knapp vor Rüdigers Gesicht.
Ehe sich der Neonazi noch fragen konnte, ob dies wohl Traum oder Wirklichkeit war, stockte ihm der Atem ob der riesigen pelzigen Spinne, die an ihrem Faden vor seinem Glatzkopf hing und ihn böse angrinste.
„Nazi am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen!“, ätzte das Insekt und leckte sich schon mal das Spinnenmaul, denn so ein delikates Frühstück gab es nicht jeden Tag.
Kalter Schweiß schoss dem Skinhead aus allen Poren. Er schrie in Todesangst, so laut er konnte, um Hilfe, und sein Unbewusstes schloss sicherheitshalber schon mal mit seinem jungen Leben ab.
„Sparky, bei Fuß!“, rief plötzlich eine dunkle, laute Frauenstimme aus dem Hintergrund.
Sparky seufzte und entfernte sich enttäuscht von ihrem Frühstück. Sie gab den Blick frei auf eine Gestalt, die Rüdiger irgendwie nicht einordnen konnte. Vor ihm stand eine mindestens zwei Meter große, muskulöse Frau, gekleidet in einen Kampfoverall, wie er von der Polizei getragen wurde, ihre Hände, die in Lederhandschuhen steckten, umfassten einen Schlagstock. Und die Frau war schwarz, so schwarz wie die Nacht. Ihr Gesicht hatte afrikanische Züge, ihr schwarzes Haar war martialisch geschnitten. Sie erinnerte Rüdiger an eine Mischung aus Grace Jones und einer Klingonin aus Raumschiff Enterprise. Mit unerträglich stechendem Blick musterte die Kriegerin den verdutzten Skinhead.
„Dein Hosenstall ist offen!“, stellte die Amazone trocken fest.
„Oh, V…verzeihung…“, stotterte Rüdiger und machte seine Hose zu, während sich seine Worte überschlugen, als er fragte, „Wer sind Sie, wo bin ich hier, wie bin ich hier her gekommen, warum bin ich hier?“
„Erstens, ich bin die Wilde Mathilde, meines Zeichens Walküre im Ruhestand,
zweitens: das hier ist jener Teil von Asgard, den mir Odin für 500 Jahre treue Walkürendienste geschenkt hat – der Brunnen vom Schotterteich gehört dazu, weshalb du mich auch „die Frau am Brunnen“ nennen darfst, wie es die Einheimischen hier schon seit Langem tun,
drittens: Magie hat dich hierher geführt
und viertens: du bist genau deshalb hier -“, sagte Mathilde trocken und hielt Rüdigers Bomberjacke mit der rassistischen Aufschrift beschwörend in die Höhe.
„He, das ist meine, geben Sie die her!“, rief der Skin empört.
Die sonderbare Brunnenfrau warf die Jacke dem Neonazi verächtlich vor die Füße. Rüdiger nahm sie schnell an sich und streifte sie über.
„Ich habe mit Odin gewettet, dass ich es schaffe, aus dir wieder einen menschlichen Menschen zu machen. Der Einäugige ist nämlich der Ansicht, dass bei dir Hopfen und Malz verloren sind.“
„Waaas?!“, rief Rüdiger empört, „Odin ist mein Führer, er ist der Inbegriff der weißen Rasse, und überhaupt, wieso kannst du Negerschlampe eine Walküre sein, du lügst doch …“
„Halt’s Maul!“, donnerte die Walküre.
Und ehe er sich’s versah, fand sich Rüdiger von Mathildes Schlagstock an seinem Hals gegen den Baum gedrückt, das Gesicht der dunklen Kriegerin dicht vor dem seinen.
„Von allen besoffenen Idioten, die im Sommer meine heilige Quelle versauen, seid ihr die Schlimmsten!“, zischte sie, „Glaubst du wirklich, du kannst mir das Märchen von der Überlegenheit der weißen Rasse auftischen? Glaubst du wirklich, wir Unsterblichen kümmern uns um die Hautfarbe, Herkunft oder die genetische Veranlagung von Menschen? Du benutzt unsere heiligen Symbole für Deinen Rassistenquatsch.“
Die Walküre drückte den Schlagstock noch fester gegen Rüdigers Kehlkopf und grunzte bedrohlich:
„Hör gut zu, du wirst mir jetzt folgen, Freundchen, oder ich pfeife Sparky zurück. Sie liebt junges, weißes Fleisch!“
„Okay …“, krächzte der Neonazi während er nach Luft rang, „ich tu, was Sie sagen.“
„Guter Anfang“, sagte Mathilde und ließ ihr Opfer los.
Sie befahl ihm, sich mit ihr ans Ufer des Sees zu setzen und zog einen altertümlichen Würfel hervor, den sie Rüdiger in die Hand drückte.
„Wirf ihn!“, sagte die Wilde Mathilde.
Der Skin würfelte eine Zwei.
„Und was jetzt?“, fragte er.
„Das ist von nun an deine heilige Zahl, Bürschchen. Sie wird dein Schicksal bestimmen.“
„Warum gerade die Zwei?“
„Weil du dich genau zwischen zwei Wegen entscheiden kannst: Entweder, du schwörst dem Einäugigen die Treue, oder du schwörst deiner Schlägerbande die Treue. Beides zugleich geht nicht.“
„Warum nicht?“
„Weil wir Unsterblichen auch mit der Zeit gehen. Als 1948 die Menschenrechte erfunden wurden, haben wir in Asgard die direkte Demokratie eingeführt und beschlossen, dass dieses Menschenrechtsding auch für uns eine gute Idee ist. Odin war übrigens auch dafür. Er musste nach 1945 sein angekratztes Image aufpolieren und reagiert seitdem auf Typen wie dich leicht allergisch.“
Als die Walküre dem Skinhead das erzählte, fiel diesem die Kinnlade herunter, und er guckte ungläubig.
„Sie wollen mich verarschen, oder?“
„Seh‘ ich so aus?“ erwiderte die Kriegerin barsch und sah Rüdiger in die Augen. Er wich ihrem stechenden Blick, in welchem er für einen Augenblick Odins Antlitz zu sehen glaubte, unsicher aus.
Mathilde fixierte den Neonazi mit eiserner Miene: „Entweder Odin oder Deine Nazi-Gang. Entscheide Dich!“
Der Skinhead war verwirrt. Hier erteilte ihm eine Frau, noch dazu eine Negerin, Befehle. Dass er sich entscheiden sollte zwischen zwei Dingen, die in seinem Weltbild untrennbar miteinander verbunden waren, schien ihm völlig absurd. Am liebsten hätte er die Schlampe alles Mögliche geschimpft, sie angespuckt, nach ihr getreten, sie am liebsten zu Tode geprügelt. Aber da sie eindeutig die Stärkere von ihnen war, schluckte er seinen Hass widerwillig hinunter. Wer weiß, was dieses Mannweib mit ihm alles anstellen würde, wenn er sie angriff. Sorgfältig wählte er deshalb seine Worte:
„Sie verlangen also ernsthaft von mir, dass ich meine Kameraden, denen ich seit fünf Jahren treu verbunden bin, verrate?“
Die Kriegerin antwortete, ohne auf sein Argument einzugehen:
„Kannst du dich denn noch mit reinem Gewissen im Spiegel anschaun?“, fragte sie ihn und hielt ihm einen antiken Handspiegel vor die Nase.
Rüdiger wich verlegen seinem Spiegelbild aus.
„Nun, da dir deine – Kameraden“, das letzte Wort presste Mathilde voll Verachtung hervor, „ja so am Herzen liegen, wollen wir uns mal ansehen, was für tolle Dinge dich an sie binden.“
Fragend schaute der Neonazi die Walküre an, als sie eine sonderbare Handbewegung über dem See machte, worauf plötzlich dichter Nebel aufzog. Rüdiger guckte nur kurz in das trübe Weiß der Nebelschleier und fand sich alsbald in einer Albtraumwelt seines früheren Lebens wieder. All seine „Heldentaten“ durchlebte er noch einmal, dummerweise aber nicht als Täter sondern als Opfer. Er war das türkische Mädchen, das er verspottet und dem er das Kopftuch heruntergerissen hatte, er war der nigerianische Flüchtling, dem er das Nasenbein gebrochen hatte, der jüdische Junge, dem er die Kippa gestohlen hatte, die Chinesin, deren Restaurant er mit einem Baseballschläger kurz und klein geschlagen hatte, der Tschetschene, der von ihm und seiner Bande krankenhausreif geprügelt worden war, die Flüchtlingskinder, die er angepöbelt hatte. Angst, Panik, Verzweiflung, Eiseskälte ergriffen seinen ganzen Körper. Er wollte fliehen, aber er war in seiner Hölle gefangen, durchlebte diese schrecklichen Ereignisse wieder und wieder …
„HÖRT AAAAUUFFFF!!“ schrie er in blankem Entsetzen und wachte nach mehreren Unendlichkeiten schweißgebadet auf.
„Scheiße – …“, japste Rüdiger mit weit aufgerissenen Augen, als er panisch nach Luft rang und sich langsam gewahr wurde, dass er seinem Albtraum entflohen war.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, sah sich der Skinhead um und merkte, dass er in einem Krankenhausbett lag. Sein Schädel brummte, und als er nach seinem kahlen, schmerzenden Kopf tastete, spürte er einen dicken Verband. Rüdiger blickte sich um. War der Traum nur ein Traum, oder war es wahr? Und wenn es ein Traum war, wie, verdammt noch mal, kamen der alte Spiegel und der Würfel hierher? Lauerte diese Asgard-Furie hier noch irgendwo? Er gab es auf, nach Antworten zu suchen, denn das Nachdenken tat höllisch weh in seinem wunden Kopf.
Mit zittrigen Händen tastete er stattdessen nach dem Spiegel und sah hinein in sein zerstörtes Gesicht. Die Stimme der Walküre kam ihm langsam zu Bewusstsein, und dass er eine Entscheidung treffen müsse. Die zwei Augen des mysteriösen Würfels blickten ihn herausfordernd an, zumal er erst jetzt merkte, dass alle sechs Seiten nur die Zwei zeigten.
„Da haben Sie ja nochmals Glück gehabt, junger Mann!“, tönte plötzlich eine irgendwie bekannte Frauenstimme durch das Zimmer.
Eine dunkelhäutige Krankenschwester kam zu seinem Bett und lächelte ihn freundlich an. An ihrem Namensschild stand „Sr. Mathilde“.
„Was ist passiert?“, fragte Rüdiger gepresst, da ihm jedes Wort schmerzte.
„Man hat Sie bewusstlos mit aufgeschlagener Stirn an einem Schotterteich gefunden. Um ein Haar wären sie ersoffen.“
„Oh“, meinte er nur.
„Hier“, sagte Schwester Mathilde und hielt Rüdigers Bomberjacke vor sein Gesicht, „Ihre Jacke war schmutzig. Ich habe sie waschen lassen.“
Rüdiger sah die Schwester verdutzt an und quetschte ein gequältes „Danke“ hervor.
Warum zum Teufel hatte sie seine Jacke waschen lassen? Er an ihrer Stelle hätte ihn damit erwürgt. Wusste diese Krankenpflegerin denn nicht, was die Aufschrift „White Power“ bedeutete? Schwester Mathilde guckte Rüdiger aber nur warmherzig und verschmitzt an. Der Skinhead erwiderte verlegen ihren Blick. Dann schaute er nochmals in den Spiegel, begutachtete die zwei Augen des Würfels, die ihn immer noch anglotzten und sah dann wieder zu der freundlichen Afrikanerin. Irgendwie hatte sich auch plötzlich das N-Wort aus seinen Gehirnwindungen verkrümelt. Eine halbe Ewigkeit verging, während er, hin- und hergerissen ob des eben Erlebten, fieberhaft nachdachte, wie das alles weitergehen sollte.
„Wissen Sie was, Schwester Mathilde“, sagte er dann endlich, als ob er gerade einen riesigen Mühlstein von seinem Herzen wegrollte, und deutete mit einer Hand zu seiner Bomberjacke: „Schmeißen Sie das Ding doch einfach in den Müll!“
– Finit –