Keltisch rekonstruiertes Heidentum – kurzer Info-Artikel

Keltisch rekonstruiertes Heidentum

(Celtic Reconstructionist Paganism)

Co-Autor/innen: Erynn Rowan Laurie, John Machate, Kathryn Price NicDhàna, Kym Lambert ni Dhoireann, Aedh Rua Ó Mórríghan.

Übersetzung: Claudia Jenik (Mc Claudia) (mit freundlicher Genehmigung von Erynn Rowan Laurie) [in eckiger Klammer eingefügte Anmerkungen sind von mir]

 Das englische Original vom 03.08.2003 konnte man hier nachlesen, ist aber bereits gelöscht:

http://www.witchvox.com/va/dt_va.html?a=usma&c=trads&id=6645

Hier das englische Original des Artikels:

CR_Info_Original_Englisch

Und hier der folgende Artikel als pdf:

CR-Info_deutsch

Geschichte

Die Idee der rekonstruierten heidnischen Religionen gibt es ca. seit Mitte der 1970er Jahre und wurde in Margot Adlers 1979 erschienenem Buch „Drawing down the Moon“ diskutiert. Einige Organisationen, wie z.B. der ADF [Ár nDraíocht Féin – A Druid Fellowship], arbeiteten schon seit vielen Jahren an der Rekonstruktion, sie richteten ihren Fokus aber nie vollständig oder besonders auf das Keltische.

Viele Interessierte diskutierten darüber, was denn nun echte frühe keltische Religion und Spiritualität beinhaltete und wie andere Personen über die Unterschiede zwischen Wicca und den verschiedenen Formen des keltischen Heidentums aufgeklärt werden könnten. Diese Diskussionen fanden seit den frühen 1980ern, anfänglich in paganen Veröffentlichungen oder am gemeinsamen Lagerfeuer während heidnischer Treffen statt. Nach 1989, mit der Ausbreitung des Internet, wurden die Debatten auf PODnet Celtic, dem GEnie network, Celtic-L und anderen Foren zum ausschlaggebenden Faktor in der Verbreitung von Informationen. Zwischen 1992 und 1993 begann sich der Begriff „Celtic Rekonstructionist“, abgekürzt CR, zur Beschreibung von Personen, die versuchen, einen authentisch keltischen Weg für moderne Heid/innen nachzuvollziehen, zu erforschen und wiederzuerschaffen, allmählich durchzusetzen.

Mit der Gründung der Nemeton-L-email-Liste für keltische Heid/innen und Druid/innen im Jahre 1994, die Personen aus der ganzen Welt zusammenbrachte, begann die Bewegung zusammenzuwachsen. Jede Person brachte ihre eigene Vision mit, und im Weiteren wurden die anderen Foren ins Leben gerufen. Auch örtliche Gruppen trafen sich, und schließlich wurden auf diesen Prinzipien beruhende nationale Organisationen gegründet. Man schrieb und archivierte Artikel, und es wurden  auf freier Basis Informationen ausgetauscht.

Die meisten Gründungsmitglieder des CR hatten ihren Hintergrund im Wicca, verbunden mit Einflüssen vom ADF, von Keltria [einem Druidenorden] oder anderen ähnlichen Gruppen. Gemeinsam und alleine erforschten sie Texte, erlernten keltische Sprachen, meditierten, gingen auf Trancereisen, verfassten Poesie und Artikel und arbeiteten, um genügend Material für die Schaffung der Grundlage einer modernen keltischen Tradition zu sammeln, die die alten Quellen respektiert, aber gleichzeitig all jene Dinge der frühen keltischen Religionen ablehnt, die für moderne Gläubige inakzeptabel sind, wie Menschenopfer, Sklaverei und andere stark patriarchale Elemente dieser frühen Gesellschaften. Man suchte nach ethischen Konzepten, filterte Relevantes heraus und wandte es dann im täglichen Leben an.

Da das Quellenmaterial über das stammesorientierte keltische Heidentum mehr als dürftig ist, ließen sich die Forschenden auch von anderen Kulturen inspirieren, welche helfen sollten, die quellenspezifischen Lücken zu füllen, so dass man sinnvoll Rituale kreieren und Gemeinden aufbauen konnte. Man erforschte z.B. die nordischen Traditionen, den volkstümlichen Hinduismus mit seiner Puja-Praxis, ekstatische Techniken aus Voodoo und Umbanda sowie animistische Stammesreligionen, inwieweit sich dort Ähnlichkeiten mit Aussagen in primären und sekundären Quellen über keltische Religion finden würden. Die Werke von Sean Ó Tuathail, in denen das Vier-Elemente-Modell  [wie es im Wicca oder in der europäischen Zeremonialmagie Anwendung findet] abgelehnt und durch eine Drei-Welten-Kosmologie, bestehend aus Land, Meer [Unterwelt] und Himmel, ersetzt wurde, waren in dieser Aufbauarbeit für viele besonders hilfreich. Die „große Triskele“, die Ó Tuathail „An Thríbhís Mhòr“ nennt, wurde zum allgemein gebräuchlichen Symbol für die drei Welten.

Zum Zeitpunkt dieses Artikels (Juli 2003) finden sich aktive Gruppen und Personen, sowie einige Online Diskussionsforen im Internet, auch wenn einige Foren eher klein sind. Die Nemeton-L-Liste ist immer noch die größte Anlaufstelle für die CR-Gemeinschaften. Die Imbas-Website archiviert viele wichtige und maßgebliche Artikel über CR und andere ähnliche Traditionen.

CR behauptet keinesfalls, eine echte, authentische Überlieferung der [antiken heidnischen] keltischen Traditionen zu besitzen. Wir geben vollends und offen zu, dass wir eine Komposition aus modernen Ideen praktizieren, basierend auf und inspiriert durch frühe keltische Glaubensvorstellungen. Wir folgen unserer Inspiration, während wir versuchen, den Vorgaben aus den alten Texten, den Arbeiten aus Wissenschaft und Archäologie, sowie unseren Erfahrungswerten, die sich als gut erwiesen haben, soweit wie möglich treu zu bleiben. CR ist ein konstant wachsender und sich entwickelnder Pfad, der durch Lernen, mystische und ekstatische Erfahrungen und das intensive, spirituelle Leben bestimmt ist.

 

Glaubensgrundlagen

 Unser Weg ist polytheistisch und animistisch. Wir glauben daran, dass es viele Gottheiten gibt, von denen jede eine eigenständige Persönlichkeit ist und der Anbetung würdig. Wir glauben, dass die Ahn/innen und die Geister des Landes und der Natur ebenfalls individuelle Wesen sind, die Anerkennung, Gebete und Ehrerbietung verdienen. All diese Wesenheiten stehen miteinander kontinuierlich in Verbindung. Man kann also Gottheiten, Ahn/innen und Naturwesen nicht streng voneinander trennen oder in vorgefasste Kategorien einteilen. Die meisten keltischen Rekonstruktionist/innen glauben daran, dass die Gottheiten und Geistwesen in unserer Welt aktiv sind und auch in unser persönliches Leben eingreifen, uns beeinflussen und auf Gebete, Gaben und Opfer reagieren. Wir sind auch der Meinung, dass die Welt beseelt ist. Das heißt, einige glauben nicht nur, dass Tiere und Bäume Seelen haben, sondern auch Berge, Flüsse, heilige Quellen und andere Naturerscheinungen. Und sogar von Menschenhand geschaffene Dinge können beseelt sein. Einzelne Heid/innen oder Gruppen folgen häufig einer oder mehrerer Gottheiten, die eine besondere Bedeutung für sie haben und unter deren Schutz sie sich deshalb stellen. Die besondere Verehrung ergibt sich oft dadurch, dass die speziellen Gottheiten die Heimat oder die Vorlieben und Tätigkeiten der Verehrer/innen repräsentieren. Viele weihen sich selbst einer oder mehrerer solcher Schutzgottheiten.

Den vornehmlichen Respekt genießen natürlich die keltischen Göttinnen und Götter. Wenn auch viele CR-Leute Gottheiten anderer Kulturen verehren, so tun sie das doch separat und auf eine Art und Weise, wie es der jeweiligen Kultur dieser Gottheiten entspricht. CR-Praktizierende vermischen nur selten Gottheiten und Geistwesen verschiedener Kulturen – nicht einmal verschiedener keltischer Kulturen – im selben Ritual. Und wenn es passiert, dann immer mit Achtung vor der entsprechenden Gottheit und ihrer Kultur. Alle Göttinnen und Götter werden respektiert, aber nicht alle gleichermaßen verehrt. Das heißt auch, dass keltische Rekonstruktionist/innen – bedingt durch den Glauben, dass Gottheiten individuelle Wünsche und Persönlichkeiten haben – möglichst vermeiden, miteinander verfeindete Gottheiten innerhalb eines Rituals zusammen einzuladen. [Ob Gottheiten befreundet oder verfeindet sind, kann man teilweise aus den inselkeltischen Mythen entnehmen.] CR-Leute fühlen, dass es zwar angemessen ist, eine Gottheit zu verehren, nicht aber vor ihr zu Kreuze zu kriechen. Unsere Göttinnen und Götter verlangen von uns persönliche Verantwortung, und dass wir aufgrund unserer Stärke und unserer Selbstachtung handeln.

Viele keltische Rekonstruktionist/innen sehen den Kosmos dreigeteilt: in Land, Meer und Himmel. Andere wiederum postulieren eine Unterwelt, eine mittlere Welt und eine Oberwelt. Wiederum andere verwenden das Konzept der Anderswelt oder mehrerer Anderswelten, welche mit unserer Welt koexistieren. Die Anderswelten sind für uns real und für Menschen mit entsprechenden Fähigkeiten auch zugänglich. In all diesen Kosmologien spielt aber Feuer eine andere Rolle als in einigen „Mainstream-Neuheidentümern“ oder im Wicca. Feuer, speziell „das Feuer, das aus dem Wasser kommt“, wird als Symbol für göttliche Inspiration gesehen. Die göttliche Inspiration wird im [modernen] Druidentum und im CR gleichermaßen entweder mit Imbas [Irisch] oder Awen [Walisisch] bezeichnet. [Die Idee des „feurigen Wassers“ oder des „Feuers, das aus dem Wasser kommt“ hat ihren Ursprung u.a. in inselkeltischen Mythen, wo Held/innen Inspiration durch den Genuss magisch kochender Tränke (Gwion Bach) oder von Lachsen, die in „blubbernden Quellen“ schwimmen (Finn mac Cumhaill) erhalten, ebenso durch alkoholische Getränke – „feuriges Wasser“ -, wie z.B. das Bier der Unsterblichkeit des Schmiedegottes (Feuer!) Goibniu.] Einige sehen das heilige Feuer aber auch als zentralen Angelpunkt, um den sich der Kosmos dreht – ein spirituelles Äquivalent zum Weltenbaum.

Ein Weltenbaum symbolisiert [unter anderem] den Mittelpunkt des Kosmos, um den sich die verschiedenen Ebenen anordnen. Dieser Baum kann natürlich durch einen realen Baum repräsentiert werden, aber auch durch einen kultischen Pfahl, der den Mittelpunkt eines Ritualplatzes oder der eigenen Wohnung symbolisiert.

Die Gottheiten und Geistwesen haben auch menschliche Eigenschaften, wie z.B. verschiedene Stimmungen, Wünsche und Begehrlichkeiten. Und sie sind keinesfalls immer gut und liebevoll. Wir akzeptieren also, dass die spirituelle Welt durchaus auch gefährlich sein kann. Daher opfern wir den Wesenheiten nicht nur, um ihnen Geschenke zu machen, sondern auch, um sie zu besänftigen.

Einige – lange nicht alle – keltischen Rekonstruktionist/innen verwenden Elemente in ihren Ritualen. Hier kursieren viele Ideen von sieben über elf und mehr Elementen, welche die verschiedenen Bausteine der physischen Welt repräsentieren. Naturphänomene wie Regen, Sonne, Wolken, Pflanzen, Steine, Erdboden, Meer und andere sind unsere „Elemente“ und werden manchmal mit Körperteilen oder philosophischen Konzepten gleichgesetzt, wie man sie manchmal in [inselkeltischen] Überlieferungen finden kann. Die Sonne z. B. wird manchmal mit dem Gesicht gleichgesetzt, die Sterne mit den Augen, Wolken mit dem Geist oder dem Denken und Pflanzen mit den Haaren. Wie auch immer: Viele CR-Leute haben aber kein großartiges Bedürfnis nach Korrespondenz-Tabellen – sie sind nämlich der Meinung, dass das vielfältige lebendige Universum nicht gut in Schubladen passt.

In irischen und schottischen Zweigen des CR gibt es das Konzept der drei Kessel. Man geht dabei davon aus, dass den Körper ein inneres Energienetz durchströmt. Die drei Kessel symbolisieren dann die drei Bereiche des Körpers, welche als Tore für göttliche Energie und Inspiration fungieren. Die Beschaffenheit, Harmonie oder Disharmonie, dieser spirituellen „Kessel“ zeigt an, wie man sich fühlt, und ob man krank ist. [Das Prinzip der drei Kessel wird in einem irischen mittelalterlichen Gedicht erwähnt, wo drei Kessel der Inspiration genannt werden: einer im Kopf, einer im Herzen, einer im Bauch. Die Ähnlichkeit zu den drei Dan Tian im Qi Gong ist m.E. ein interessanter Zufall.] Spirituelle Heiler/innen in dieser Tradition arbeiten mit diesem Konzept, aber auch in Meditationen kann man das Bild der drei Kessel als Synonym für die drei Energiebereiche im Körper anwenden.

Was Macht und Führungsqualitäten im CR betrifft, sind Männer und Frauen vollkommen gleichberechtigt. Sowohl Frauen als auch Männer sind im CR als Forscher/innen, Gelehrte, „Druid/innen“ oder Seher/innen, „Krieger/innen“, Künstler/innen, Leiter/innen von „Haushalten“ oder „Stämmen“ und allen anderen Aufgabenbereichen tätig. Man huldigt Göttern und Göttinnen gleichermaßen. Wenn bestimmte Gottheiten bevorzugt werden, dann nur bedingt durch persönliche Vorlieben. Einige Gemeinschaften und Individuen, wie zum Beispiel die verschiedenen Brighid-Orden, ehren zum Beispiel ausschließlich Göttinnen. Außerdem ist der CR sexuellen Minderheiten gegenüber absolut aufgeschlossen: viele Gründungsmitglieder und Denker/innen sind homo- oder bisexuell oder auch transgender. Ein großer Teil der CR-Praktizierenden sehen Feminismus als wichtigen Teil ihrer Philosophie und ihrer (spirituellen) Praxis.

Obwohl viele Leute, die zum CR kommen, keltische Vorfahren haben, ist es im CR keinesfalls Voraussetzung, einen keltischen Stammbaum nachweisen zu können. Wir respektieren alle unsere Lehrer/innen und Ahn/innen, egal ob diese nun keltisch sind oder nicht. Viele von uns haben keine keltischen Vorfahren, aber wir alle sehen in den frühen Kelten „spirituelle Ahn/innen“, die für unseren Weg bestimmend sind. Uns ist bewusst, dass die Menschheit in Afrika entstanden ist, und dass wir infolgedessen alle aus demselben Blut sind – wir alle gehören zur menschlichen Familie. CR ist daher unter allen Umständen antirassistisch, und Leute aller Ethnien, Kulturen und Hautfarben, welche den keltischen Gottheiten im Sinne des CR folgen wollen, sind herzlich willkommen.

Unsere rekonstruktive Arbeit an einer authentischen keltischen Religion wurde auch von indigenen Praktiken anderer Kulturen, wie Voodoo, verschiedenen Stammesreligionen, Animismus und Hinduismus inspiriert. Allerdings übernehmen wir nicht einfach Teile dieser Kulturen oder behaupten gar, diese Traditionen zu praktizieren oder zu repräsentieren. Jede Tradition hat ihre eigenen Priester/innen – ihren Klerus – und ihre eigenen Gemeinschaften. Auch wenn wir, wo immer wir können, uns lieber auf die keltischen Überlieferungen beziehen, so gibt es im „Rekonstruktionspuzzle“ eben leider immer wieder fehlende Teile. Wir sehen uns dann bei heutigen Traditionen um, die ähnliche religiöse Praktiken haben könnten wie die frühen Kelten. So inspiriert kreieren wir dann die fehlenden Puzzleteile, immer den „keltischen Geist“ im Auge behaltend. Das Wissen über andere Traditionen dient auch als nützliches, wertvolles Feedback, wenn man durch Inspiration erfahrene rituelle Praktiken oder religiöse Theorien vergleichen, verifizieren oder überprüfen will.

Da wir uns mit den Naturgeistern verbunden fühlen und das Land, auf dem wir leben, heilig ist, sind viele CR-Praktizierende im Umweltschutz aktiv. Andere wiederum finden es wichtig, die heimische Fauna und Flora zu kennen, um sich auf diese Weise mit dem Land und den Naturgeistern zu verbinden. Metaphern aus der Welt der Natur sind in der Sprache der Philosophie, des Rituals und des Denkens üblich. Dieses Naturverständnis lässt sich in der langen Tradition der inselkeltischen Poesie und Mystik zurückverfolgen. Ökologie und Ökofeminismus spielen in der Praxis von CR-Anhänger/innen oft eine große Rolle.

Gelehrsamkeit, Mystizismus, ekstatisches Erleben und persönliche Inspiration sind allesamt hochgeschätzte Komponenten im keltischen Rekonstruktionismus. All dies ist gleichermaßen notwendig, auch wenn manchmal Einzelne und Gruppen das eine oder andere als wichtiger erachten. Forschung, Belesenheit und Kunstfertigkeit genießen großen Respekt im CR. Aber auch Verständnis für und Wertschätzung von Geschichte ist sehr wichtig. Eine keltische Sprache zu beherrschen ist zwar nicht notwendig, allerdings ist es sinnvoll, ein paar religionsspezifische „Fachausdrücke“ in den keltischen Sprachen zu kennen. Einige zelebrieren sogar ganze keltischsprachige Rituale oder rezitieren einige liturgische Phrasen auf Keltisch. Alle individuellen Erkenntnisse, die durch Lesen, Lernen, Inspiration, Meditation, ekstatische Praktiken, etc. zustande kommen, werden von den Mitgliedern diskutiert, mit anderen geteilt und auf Sinnhaftigkeit untersucht, indem sie in der Ritualpraxis ausprobiert werden.

 

Die Rolle der Druid/innen

Wenn von Druid/innen, also vom keltischen Klerus im CR die Rede ist – und lange nicht alle Gruppen brauchen oder wollen ein formelles Druidentum – handelt es sich in erster Linie um spirituelle Lehrer/innen oder um Erfinder/innen bzw. Leiter/innen von Gruppenzeremonien. Personen, die dem Klerus angehören, sind, wie auch im frühen Keltentum üblich, Seher/innen, Philosoph/innen, Theolog/innen, Heiler/innen oder Schlichter/innen in Streitfällen innerhalb einer Gemeinschaft. Das heißt aber nicht, dass all diese Aufgaben auf den Klerus beschränkt sind – auch Personen, die nichts mit dem Druidentum zu tun haben, widmen sich oft der Philosophie, der Leitung von Gruppenritualen, der Heilung, der Theologie, etc. Die Leute des Klerus im keltischen Rekonstruktionismus werden oft mit den irischen Termini „Draoi“ [Druiden] oder „Filidh“ [Seher, Dichter] oder mit einem anderen keltischen Begriff bezeichnet.

Grundsätzlich wird die Priester/innenschaft von der Gemeinschaft oder Gruppe, der sie dient, gewählt. Und die Druid/innen sind hoch respektiert. Anerkennung erhalten sie auch  von der gesamten CR-Gemeinschaft, wenn sie sich durch Arbeit, ihren Beitrag für die Gemeinschaft, ihren guten Ruf, ihrer Arbeit bei Festivals oder durch lesenswerte Artikel hervortun.

Keltischer Rekonstruktionismus ist aber keine ausschließliche „Priester/innenreligion“ wie Wicca oder das moderne Druidentum. „Krieger/innen“, Bäuer/innen, Schreiber/innen, Künstler/innen, Handwerker/innen und viele anders orientierte Keltenfans können einem für die spezielle Berufsgruppe eingerichteten „Haushalt“ angehören, einem eigenen, individuellen Pfad folgen, oder aber in einer Gruppe aktiv sein, wo auch Druid/innen vorhanden sind. Handwerker/innen oder Künstler/innen, Autor/innen und andere identifizieren sich manchmal mit den Aes Dána, den „Leuten der Kunst“ [, wie im alten Irland die Künstlerelite genannt wurde]. Auch gibt es die Möglichkeit, dass Einzelne bei einem Druiden oder einer Druidin lernen. Alle sind willkommen, ob sie nun einer Priester/innenschaft angehören wollen oder nicht.

 

Organisation der Gemeinschaft

Wie sich eine CR-Gruppe organisiert, bleibt ihr überlassen. Es gibt keine allgemein gültige Struktur, der alle folgen. So gibt es die verschiedensten Arten von Gemeinschaften: Haine (groves), Stämme (tribes, irisch: tuatha), Familien (families), Haushalte (households), Druidenschulen (druidic colleges), Hainschulen (hedge schools), Brigit-Orden (Brighid orders) oder andere Arten von Gruppierungen. Es gibt keine Regeln, wie eine Gruppe geleitet oder gegründet werden soll, oder wie sie CR praktiziert, abgesehen von den hier beschriebenen allgemeinen Prinzipien und ethischen Grundsätzen der Tradition selbst.

 

Ethik

Praktizierende des keltischen Rekonstruktionismus sind der Ansicht, dass es, bezüglich der Dinge, die man tun kann oder soll, ethische und soziale Regeln geben muss. Solche Regeln basieren bei uns auf Konzepten, die von den altirischen Gesetzen (Brehon Laws) und anderen traditionellen Quellen, wie z.B. den Instruktionen des Morann mac Main [dabei handelt es sich um die erwartete ethische Haltung von irischen Königen] oder den walisischen und irischen Triaden [das sind dreiteilige Merksätze, die unter anderem auch Tugenden und Ethik zum Thema haben] stammen. Einige Leute im CR schwören auf bestimmte Tugenden, ähnlich den neun edlen Tugenden im Ásatrú. Die bei uns üblichen Tugenden, die von vielen geschätzt werden, sind:

truth (Wahrheit / Ehrlichkeit),

honor (Ehre / Ehrgefühl),

justice (Gerechtigkeit),

loyalty (Loyalität / Treue / Redlichkeit),

courage (Mut / Tapferkeit),

community (Gemeinschaft(ssinn)),

hospitality (Gastfreundschaft),

strength (Stärke / Kraft),

gentleness (Freundlichkeit / Güte).

„Krieger/innen“ sind im CR ebenfalls hoch geschätzt, und es gibt viele Möglichkeiten, ein/e Krieger/in zu sein. Das heißt aber nicht, dass CR Gewalt verherrlicht, oder dass Krieger/innen Probleme grundsätzlich mit Gewalt lösen. Einzelne Mitglieder im keltischen Rekonstruktionismus sind bei der Armee angestellt oder sogar Kriegsveteran/innen – oder aber Friedensaktivist/innen – und manchmal sogar beides! Andere „Krieger/innen“ wiederum sind irgendwo im breiten Spektrum zwischen beiden Extremen angesiedelt [z.B. indem sie  eine Kampfkunst ausüben oder sich politisch engagieren]. Der Platz der Kämpfer/innen ist legitim, denn es muss auch Leute geben, die „den Stamm“ beschützen [damit ist m.E. nicht nur die eigene CR-Gruppe, die eigene Familie oder die Freund/innen gemeint, sondern auch z.B. Solidarität mit Minderheiten oder Kampf für Menschenrechte, etc.]. Krieger/in zu sein bedeutet nach dem CR-Verständnis aber nicht, wehrlose Menschen anzugreifen, die nichts Unrechtes getan haben.

Keltischer Rekonstruktionismus tritt entschlossen und umfassend gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie und jede Form von Diskriminierung auf, die Menschen vom Grundsätzlichen her in „gut/wertvoll“ und „schlecht/unwert“ einteilen.

 

Feste und Feiern

Der keltische Rekonstruktionismus feiert die vier altirischen Hauptfeste [die zugleich auch – wenn auch an sehr ungewöhnlichen Daten – den Beginn der Jahreszeiten markieren]. Diese sind:

– Oíche Shamhna / Samhain [“Sommerende”, 1. November, Jahresbeginn, Winterbeginn]

– Lá Fhéile Bríde [„Fest der (Göttin) Brigit“] / Oímealg [„Fest, an dem die Schafe Milch bekommen“] / Imbolc [„umfassende Reinigung“ oder „im Bauch“] – [1. Februar, Frühlingsbeginn]

– Lá Bealtaine / Bealtaine [„Feuer des (Gottes) Bel“, 1. Mai, Sommerbeginn]

– Lúnasa / Lughnasadh [„Versammlung des (Gottes) Lugh“, 1. August, Herbstbeginn]

Verschiedene Gruppen und Einzelne können diese Feste verschieden benennen, je nachdem welcher keltischen Kultur (und Sprache) sie sich verschrieben haben. Die Bezeichnungen der Feste können daher auch in Gallisch, Kornisch, Walisisch, Manx, Bretonisch oder Schottisch-Gälisch sein. Gallische bzw. festlandkeltische CR-Anhänger/innen feiern die Feste üblicherweise unter Verwendung einer modifizierten Form des Coligny-Kalenders [das ist ein bruchstückhaft erhaltener Kalender aus dem antiken Gallien]. Grundsätzlich markieren die Feste die jahreszeitlichen Änderungen von Wetter und Landschaftsbild der heimatlichen Region (z.B. erster Frost, Erscheinen der ersten Krokusse, oder andere Naturphänomene – abhängig davon, in welcher Klimazone man wohnt). Das Feiern der natürlichen Jahreszeiten ist also wichtiger, als das strikte Befolgen alter Kalenderdaten, denn im weltweiten keltischen Rekonstruktionismus sehen wir es als unsinnig an, die Feste der Natur in unpassende Kalenderdaten zu pressen. Nicht die Natur muss sich einem keltischen Kalender anpassen, sondern der Kalender der Natur.

Zusätzlich zu den vier Hauptfesten kann man auch Feierlichkeiten und Andachten zu Ehren eigener Gottheiten oder der örtlichen, als wichtig erachteten Naturerscheinungen begehen. Zum Beispiel feiern keltische Rekonstruktionist/innen an der pazifischen Nordküste der USA das dortige traditionelle jährliche Lachsfischerfest mit. Andere wiederum begehen das Fest der Göttin Epona [nach historischen Überlieferungen am 18. Dezember]. In der Tradition der Isle of Man gibt es zur Zeit der Sommersonnenwende eine Zeremonie zu Ehren des Gottes Manannán mac Lir. [usw.]

 

Kultpraxis

Es gibt im CR viele Wege, die Gottheiten zu verehren. Grundsätzliche Gemeinsamkeiten liegen dabei nur in der Philosophie hinter den Ritualen, nicht aber in der Ritualpraxis selbst. Gruppen und Einzelne agieren autonom in ihrer Ritualgestaltung.

CR-Praktizierende ziehen für gewöhnlich keinen „magischen Kreis“ vor Ritualbeginn, so wie einige andere neuheidnische Gruppen es oft tun. Das Gefühl im keltischen Rekonstruktionismus ist, dass die ganze Welt heilig ist, und so befinden wir es nicht für nötig, unsere religiösen Stätten einzugrenzen. [Nach einer ausführlichen Diskussion mit einigen der Autor/innen dieses Artikels, die zumeist der irischen Tradition anhängen, konnte ich sie davon überzeugen, dass eine ganze Menge eisenzeitlicher (keltischer) Heiligtümer archäologisch nachgewiesen sind, die allesamt mit mächtigen Palisaden und Opfergräben umgrenzt sind. Eine Einhegung des Kultbezirkes (in der heutigen Zeit z.B. mit bunten Bändern oder durch Markierung der vier Ecken des Heiligtums mit Pfählen, Steinen, etc. möglich), die den Flecken Land, den man für Rituale nutzt, zu einem „Nemeton“ (Gallisch für „Heiligtum“) macht, ist also sehr wohl CR-konform. Auch auf Umgänge (Circumambulationen – wahrscheinlich – inselkeltisches Brauchtum bedenkend – im Uhrzeigersinn) kann man aus der Form des gallorömischen Umgangstempels sowie aus christlich-irischen Bräuchen, in denen z.B. Brighid-Quellen umgangen werden, schließen. Alleine der Sinn dahinter ist anders als z.B. im Wicca – es wird kein magischer Kreis gezogen, der eine/n „zwischen die Welten“ bringt, und der dann wieder aufgelöst wird. Sondern das Heiligtum wird errichtet (und bleibt dann auch dort). Der Umgang dient dann als Respekterweisung für die jeweilige Gottheit und ist für die Gläubigen selbst segenbringend.]

Einige sehen die vier oder 12 Windrichtungen oder aber auch die heiligen irischen Provinzen als Symbol für die vier Ecken der Erde. Die meisten CR-Praktizierenden bauen Altäre, heilige Feuerstellen (Herde) oder Schreine in ihren Wohnungen oder Gärten. Diese Altäre können allgemein gehalten sein oder aber für spezielle Gottheiten, Geistwesen oder Ahn/innen bzw. für spezielle magische Zwecke, wie Heilung oder Visionssuche errichtet werden. Neben den im neuheidnischen Umfeld üblichen Altarformen innerhalb der Wohnung oder eines geschlossenen Tempels (oft ein Tisch, auf dem die heiligen Objekten arrangiert sind) bevorzugen viele CR-Leute die freie Natur, wo die Wurzeln eines Baumes, ein kleiner Brunnen, eine Quelle oder eine Anhäufung von Steinen als Altar dienen können.

Zu unseren Andachten laden wir die Göttinnen und Götter als Gäste ein, da sie der Mittelpunkt unserer Riten sind. Naturgeister und Ahn/innen werden ebenso willkommen geheißen. Die meisten Rituale beinhalten Opferungen von Speis und Trank [vor allem Trankopfer und Umtrünke mit Met oder Bier sind sehr beliebt], Räucherwerk und anderen Dingen. Manchmal bittet man die Gottheiten, Geister oder Ahn/innen um die Erfüllung von Wünschen, wenn man entsprechende Anliegen hat. Dabei werden immer Opfergaben gespendet. Nachdem geopfert wurde, werden Orakel befragt, um den Götterwillen bezüglich der geäußerten Wünsche zu erkunden.

Wenn man eine besondere Beziehung zu einer Gottheit hat, kann man für diese ganz spezielle Riten (re)kreieren. Als Beispiel seien hier moderne Brighid-Verehrer/innen genannt, die das überlieferte Ritual der ewigen Flamme in Kildare für sich rekonstruiert haben. Sie organisieren sich, [ähnlich wie die frühmittelalterlichen christlichen Nonnen], in „Zellen“ (cells) zu je 19 Leuten (einige dieser Gruppen bestehen nur aus Frauen), um das heilige Feuer zu hüten. Diese Zellen bestehen teils aus Leuten, die überall auf der Welt verstreut wohnen. Jede/r hütet das heilige Feuer 19 Tage lang (der 20. Tag ist laut Mythos jener, an dem Brighid selbst ihr Feuer bewacht), bevor es weitergereicht wird. Jedes Mitglied des Brighidordens ist angehalten, den „20. Tag“, an dem das ewige Feuer weitergegeben wird, seiner Göttin zu widmen.

Basierend auf archäologisch (und teilweise historisch) belegten steinernen Saunahäuschen in Irland [und Keltiberien] machen einige CR-Leute auch Schwitzbadrituale. Solche Schwitzzeremonien kann man für Heilung, Reinigung oder eine Visionssuche veranstalten. Da wir Imbas / Awen, [also die hl. Inspiration] sehr schätzen, nehmen wir Träume ernst und wenden manchmal bewusstseinsverändernde Techniken an. Auch die Meditation mittels eines [heidnisch adaptierten] Rosenkranzes ist bei einigen CR-Leuten beliebt. Den Anstoß dazu gab Erynn Rowan Laurie mit ihrem diesbezüglichen Buch „A Circle of Stones“. Viele Leute haben diese und ähnliche Ideen für ihre persönlichen Meditationen und Riten aufgenommen, um so ihre geliebten Gottheiten innerhalb ihres keltischen Kontextes zu ehren.

Einige keltische Rekonstruktionist/innen haben ihren Alltag ritualisiert. Sie nehmen ihre Inspiration auch aus der Carmina Gaedelica [das ist eine mittelalterliche schottische Poesie-Sammlung, teils mit christlichem Inhalt] und entwickeln Lieder oder Gebete, die die Alltagsarbeit und den Tagesablauf begleiten. Gärtner/innen oder Bäuer/innen wiederum bringen Opfergaben während der Ernte oder des Kräutersammelns dar. Für viele sind diese täglichen kleinen Zeremonien genauso wichtig, wenn nicht manchmal wichtiger als das Begehen der vier großen Feste oder anderer Gruppenrituale. Die täglichen Andachten sind frei gestaltet und variieren manchmal von Tag zu Tag und von Anlass zu Anlass, was aber der Wirkungsweise dieser Riten keinen Abbruch tut. Wir glauben nämlich nicht, dass es notwendig ist, dass ein Ritual formell ablaufen muss, um wirkungsvoll und effektiv zu sein. Oft sind unsere Gebete und Zaubersprüche heidnische Adaptionen aus der christlichen, mittelalterlichen [inselkeltischen] Literatur. In diesen Schriften sind Gebete und Segenssprüche enthalten, die zu den verschiedensten Arbeiten und alltäglichen Anlässen rezitiert wurden – zutiefst traditionelle Frömmigkeit! Viele christliche Teile in diesen inselkeltischen Gebeten oder Anrufungen scheinen jedenfalls eine spätere Änderung in ursprünglich heidnischen Texten zu sein. Und es fühlt sich sehr stark und „natürlich“ an, wenn man in kreativer Weise die christlichen Dinge wieder ins Heidnische übersetzt.

Einige ländliche CR-Leute, die Nutztiere züchten, die zur Schlachtung vorgesehen sind, bringen ihren Tieren respektvoll Opfergaben dar. Nach der Schlachtung, wenn das Fleisch verarbeitet wurde, wird der Geist des Tieres wiederum als Gabe den Gottheiten angeboten. Ein direktes Schlachtopferritual, wie im antiken Heidentum üblich, findet aber nicht statt. [Dieser Satz wurde von den Autor/innen in den unten verlinkten CR-FAQs nach diesbezüglichen Diskussionen revidiert. Tieropfer, sofern die Tiere artgerecht gehalten werden und möglichst schmerzlos geschlachtet werden, können auch CR-Praxis sein. Das Fleisch der geopferten Tiere wird dann beim Festmahl verzehrt.] Verbreitet sind vor allem Opferungen von Gegenständen oder Pflanzen: Wie bei den antiken Kelten üblich, werden Ritualgegenstände zerbrochen oder anderweitig zerstört, bevor sie den Gottheiten durch Niederlegung oder Versenken in einem Gewässer dargebracht werden. Brennbare Opfergaben werden ins heilige Feuer geworfen. Oft werden auch Figuren aus Kräutern gebastelt, die als heilige Gaben dienen. [Das Zerstören der Opfergaben kann man analog zu Tier- oder auch damaligen Menschenopfern sehen: Die Opfergabe muss für das Diesseits unbrauchbar gemacht werden, also unwiederbringlich der Anderswelt überantwortet werden. Man könnte auch damit argumentieren, dass mit der Zerstörung der Opfergabe sowohl deren Geist als auch die Gebete der Opfernden frei werden und so die Gottheiten besser erreichen können.]

Magie ist Teil der CR-Praxis. Obwohl magische Praktiken bei uns nicht den zentralen Stellenwert einnehmen wie in einigen anderen neuheidnischen Richtungen, so scheint es doch, dass Magie oft den Alltag durchdringt. Keltischer Rekonstruktionismus hat allerdings nichts gemein mit hermetischer Lehre oder Zeremonialmagie, auch nicht mit deren Verständnis der spirituellen Welt und des Kosmos. Das Werfen von Ogamstäben [Orakelstäbchen mit eingeritzten Ogam-Zeichen – Ogam ist eine antike irische Schrift mit ähnlicher Symbolik und Aussagekraft wie die germanischen Runen], das Beobachten des Vogelflugs oder der Wolkengebilde sind übliche Divinationsmethoden. Träume und Visionen sind wichtige Quellen unserer Inspiration und dienen ebenfalls als Orakel. Einen wichtigen magischen Stellenwert nehmen auch Musik und Poesie ein. So wie in der inselkeltischen Folklore üblich, werden auch Talismane oder andere Zaubergegenstände hergestellt, über die dann ein Zauber gesungen wird, damit sie die nötige Kraft erhalten. Wichtig bei magischen Handlungen im keltischen Rekonstruktionismus ist aber immer die Verehrung der Gottheiten sowie die an sie gerichtete Bitte um Hilfe.